Der Psychologe Stephan Grünewald, der mit dem Marktforschungsinstitut Rheingold der Befindlichkeit der Deutschen immer wieder mit tiefenpsychologischen Interviews auf den Zahn fühlt, konstatiert in einem Auszug aus seinem neuen Buch, dass die anhaltende Krise die Gesellschaft immer mehr in einen "Zustand besinnungsloser Betriebsamkeit" führe. "Psychologisch betrachtet hat die sogenannte Krise ähnlichkeiten mit einem nächtlichen Albtraum, den wir nach dem Aufwachen sogleich wieder abschütteln wollen. Denn sie ist mit dem Gefühl verbunden, plötzlich und unerwartet in unüberschaubare Verhältnisse geraten zu können", so der Psychologe. Der wunde Punkt: Noch scheinen wir sicheren Boden unter den Füßen zu haben, doch wir leben in dem Gefühl, "jeden Moment ins Bodenlose stürzen zu können". Die Flucht in den Aktivismus biete hier einen Pseudoausweg, um die eigene Hilflosigkeit zu kompensieren. Eine Flucht, die in der Wirtschaft zunehmend für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werde: "Viele Unternehmen nutzen gleichfalls diese Tendenz zur Überbetriebsamkeit und verstärken sie zusätzlich. Sie begegnen dem drohenden Einbruch der Krise mit Appellen zur Leistungssteigerung und mit der Erhöhung ihres Effizienzdiktates. Der Leistungsdruck von Seiten der Unternehmensspitze nimmt zu." Unter den Vorzeichen des Leistungsdiktats entsteht laut Grünewald ein neuer Verortungspunkt, der "Erschöpfungsstolz". Arbeitende seien nun nicht mehr stolz auf ihr geleistetes Tagewerk, sondern ihr Grad der Erschöpfung werde zum Leistungsmaßstab. Das Gefühl, sich "rechtschaffen abgearbeitet" zu haben, kompensiere die die immer seltener beantwortete Sinnfrage. Inne halten, Abstand gewinnen, die Perspektive wechseln - Fehlanzeige in einem System, dass der Frage nach einem möglichen Wandel gezielt mit Abwehrmechanismen ausweicht.
Wenn Unruhe die Träume verdrängt, Zeit online 14.2.13
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