Vorige Woche warf der ordnungspolitisch orientierte Philosoph Wolfgang Kersting, Direktor des Philosophischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, in der FAZ eine interessante Frage auf, nämlich ob das sozialstaatliche Umverteilungssystem nicht auf seine Weise dieselben egozentrischen Mechanismen in Kraft setzen, die von Marktkritikern immer dem freien Markt vorgeworfen werden. "Aber die irren sich beträchtlich, die im Sozialstaat eine Höhle erblicken, in der die Moral in der kalten Jahreszeit des Kapitalismus überwintert. Der Sozialstaat ist kein Ort ethischer Exzellenz, er erzieht nicht zur Moral. Seine Anreizsysteme begünstigen den Egoismus nicht minder als der Markt. Die Menschen betreiben ihre Versorgungskarrieren im Sozialstaat mit der gleichen egozentrischen Konzentration wie ihre Erfolgskarrieren auf dem Markt, nur müssen sie nicht das disziplinierende Selbstverantwortlichkeitspensum ableisten, das der Markt jedem abverlangt", schreibt Kersting. Auch wenn der Sozialstaat natürlich seine Existenzberechtigung darin findet, den wirklich Schwachen unter die Arme zu greifen, stellt sich meiner Meinung nach berechtigterweise die Frage, ob staatlicher Interventionismus nicht in der Tat Eigeninitiative lähmt und die BürgerInnen geradezu in eine passive Versorgungshaltung dirigiert. Veränderungswillen und Mut jedenfalls werden wenig gefördert im gegenwärtigen System. Die, die einfach etwas bewegen wollen, erhalten wenig Unterstützung. Man kann sich natürlich fragen, ob sie sie überhaupt benötigen, denn, das zeigt die Praxis auch: Wer sich einem Ziel wirklich verpflichtet fühlt, wird es so oder so anstreben.
"Sozialstaatliche Freiheitsgefährdung", FAZ 7.6.2008
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