Meditation: Einfach nur wacher oder mehr selbstbezogen?
Wir leben in einer Zeit, in der Meditation auch dafür gelobt wird, dem teils krankhaften Individualismus und den damit verbundenen Egomotivationen entgegenzuwirken. Meditation macht wacher, aber nicht zwingend auch für die eigenen Unzulänglichkeiten. Im Gegenteil: Wer sich durch Achtsamkeitsübungen gestärkt fühlt, kann damit auch leicht sein Ego stärken. Die WiWo geht in einem Artikel genau diesem Phänomen nach. Eine niederländische Studie etwa zeigt, dass Achtsamkeit unerwünschterweise auch Selbstüberschätzung fördern kann. Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt eine deutsche Yoga-Studie. Auch hier führte die entspannende Wirkung der Übungen nicht zwingend auch zu einer Entspannung des Ego. Es scheint, als würde unser Persönlichkeitssystem alle Erfahrungen, die wir machen, zunächst einmal durch die uns gewohnten Muster interpretieren. In Kulturen mit überstarkem Ich-Gefühl liegt es da nur nahe, dass das Ich, wie es ist, sich alle positiven Erfahrungen einverleibt. Ich finde es spannend, dass in der letzten Zeit immer mehr Studien zu diesen Phänomenen gemacht werden. Ihre Ergebnisse deuten in meiner Wahrnehmung nicht auf eine Schwäche der Meditation selbst, sondern eher auf die Engpässe der Kontexte, in denen hierzulande praktiziert wird. In den klösterlichen Kulturen, aus denen diese Übungen stammen, war die Überwindung des Selbst immer ein zentrales Anliegen. Doch heutzutage wird Achtsamkeit häufig mit Blick auf persönliches Wohlbefinden gelehrt und dies oft in leicht verdaulichen Kursen. Wer schon einmal ein längeres Retreat gemacht und über mehrere Tage jeweils viele Stunden in Stille gesessen hat, ahnt den Unterschied. In solchen Settings geraten die altbewährten dermaßen unter Druck, dass so manches von unserem Selbstbild schlicht nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, man könnte auch sagen, es kollabiert. Für Menschen, die sich ein starkes Ich wünschen, erscheint dies vielleicht zunächst wie ein völlig unerwünschter Effekt. Erfahrungsgemäß ist allerdings das Gegenteil der Fall. Denn gerade die Schwächen, denen man in der Meditation wirklich begegnet, ungeschminkt wahrzunehmen und zu erfahren, dass man irgendwie immer noch "da" ist, kann eine wirkliche Befreiung sein.
Achtsame Egomanen, WiWo 25.7.20